100. Auktion

15.11.2019

Lot 85

Böhmen, 560 x 380,5 x 250,5 mm, circa 1620
Museale böhmische Tischuhr mit Viertelstundenschlag sowie Kreuzschlaghemmung und Remontoir nach Jost Bürgi - Meisterstück
Geh.: Die vier Seiten des vergoldeten Messinggehäuses sind jeweils von gegossenen und gedrehten Säulen flankiert, die auf viereckigen Sockeln ruhen; das Gehäuse ist reich graviert mit Masken und Schnörkeln. Die linke Seite des Gehäuses hat eine verglaste Öffnung und ist mit Putti und Bordüren sowie einem Cherub verziert, der auf einem Stundenglas in einer Kartusche über dem silbernen Viertelstundenzifferblatt lehnt. Auch die rechte Seite des Gehäuses besitzt eine verglaste Öffnung und ist reich graviert mit Bordüren, Putti und einem seifenblasenden Cherub in einer Kartusche über einem silbernen Stundenzifferblatt; die Gesamtstruktur erhebt sich auf einem profilierten Sockel, der auf vier geflügelten Klauenfüssen ruht. Das Gehäuse wird bekrönt von einem architektonischen Aufbau mit gedrehten Fialen innerhalb einer Balusterumrandung; ausgeformte und verglaste Öffnungen erlauben den Blick auf die Kreuzschlag-Hemmung. Links sitzt eine Scheibe, die den Aufzug des Remontoirs anzeigt, ein kleiner Zeiger gebläuter Stahlspitze befindet sich links. Die gesamte Struktur ist exquisit graviert mit Schnörkeln, zwei Putti, die Girlanden hochhalten, einem Putto mit einer Sense sowie einem Putto mit einem Ruder. Der obere Teil der Rückseite ist entsprechend graviert und zeigt ein silbernes Zifferblatt im Zentrum, welches mit einer vertikalen Sonnenuhr graviert ist, die am 50. Breitengrad (in Prag) direkt nach Süden zeigt. Die plastisch ornamentierte Umrahmung zeigt im unteren Bereich mittig eine Maske in einer Kartusche und eine Sonne; des Weiteren vier Stundenlinien VI-VI entgegen dem Uhrzeigersinn, Deklinationslinien, Tierkreiszeichen und böhmische Stundenlinien. Der scharnierte Gnomon ist fein graviert und das untere kleine Zifferblatt zeigt gravierte konzentrische Ringe und arabische Zahlen 1-8 zur Einstellung der Zeit. Das Ganze wird flankiert von allegorischen Darstellungen der Sonne, die auf einem Löwen sitzt und des Mondes auf einem Delphin reitend.
Ziffbl.: aus gehämmertem Silber mit graviertem Ziffernring mit zweimal l-XII sowie Halbstundenmarkierungen in Form von Sternen. Der äußere Ziffernring zeigt eingraviert die 4 Viertelstunden l-llll sowie arabische 5-Minuten-Einteilungen. Die gebläuten Stahlzeiger für Stunden und Minuten sind geschweift.
Werk: Die Prismenstruktur des Werkes hat stählerne Eckpfeiler und vier vergoldete Messingplatinen, die das Federhaus und das Räderwerk tragen. Eine Darmsaite ist mit einer Rolle verbunden die über eine weitere, am hinteren Eckpfeiler angebrachten Rolle läuft bis zum Federhaus. Die Konstruktion arbeitet mit einem Zeigerstellrad auf einer Welle, die durch das vordere Zifferblatt ragt. Eine zweite Saite läuft von der Umlenkrolle zu einer der beiden starren Rollen auf einer verlängerten Welle, die die Scheibe für den Status des Remontoirs trägt. Von der zweiten Rolle aus läuft eine Saite zu einem kannelierten Hebel, der durch den Viertelstundenschlag aktiviert wird und den Rücklauf des Remontoirs anstößt; das 21.5 cm dicke Stahl-Hemmungsrad mit 6 Speichen und 180 feingeschnittenen Zähnen wird von einem kurzen Stahlräderwerk mit zwei Antriebsrädern und Rädern getrieben, welches zwischen einer großen Brücke und der Vorderplatine befestigt ist. Auf der Vorderplatine des Gangwerks ist ein Viertelsternrad montiert; die Kreuzschlag-Foliots sind miteinander verzahnt und drehbar zwischen Frontplatine und einer weiteren, ausgebogten Platte montiert. Ein Schlitten für die Hemmung ist vorhanden, die Feinabstimmung wird über Nocke und Feder ausgeführt. Die Vorderplatte ist mit zwei bogenförmigen Schauöffnungen versehen, die Kreuzschlag-Hebel sind mit justierbaren punzierten und vergoldeten geflügelten Engelsköpfen verziert. Die Räderwerke für Viertelstunden- und Stundenschlag sind am Boden befestigt; beide Werke sind mit Kette/Schnecke ausgestattet, die Federhäuser mit verstifteten Deckeln, äußeren Sperrrädern, Stahlrädern und Antriebsrädern mit besonders feinen Zähnen, sowie ein Vorderaufzug durch einen durchbrochen gearbeiteten Kupferstaubschutz. Die Schlussscheibe des Viertelstundenschlags trägt vier Sätze von jeweils drei Stiften, die in einen gebogten Hebel eingreifen und so die Remontoir-Feder zurückspulen. Zusätzliches Räderwerk zeigt die letzte geschlagene Viertelstunde auf dem linken Zifferblatt an, während über einen drehbar gelagerten Hebel, der den Mechanismus der Stundenschlags auslöst, mit einer entsprechenden Konstruktion die letzte geschlagene Stunde auf dem rechten Zifferblatt angezeigt wird. Gangreserve 2 Tage.
Vier ähnliche Uhren sind bekannt; zwei davon in Kassel, eine in Dresden und eine weitere in Kopenhagen. Uhren sind eine der herausragendsten Erfindungen der Renaissance-Zeit. Bei dieser Uhr handelt es sich um eins der seltensten Stücke aus deutscher Uhrmacherkunst seit Jahren, welches auf den Markt gelangt. Obwohl die Uhr unsigniert ist, sehen wir hier doch zwei Erfindungen aus der Hand von Jost Bürgi (1552-1632) vor uns, nämlich eine Kreuzschlaghemmung sowie ein Remontoir – beidem wird ein enormer Anteil an der Entwicklung der Präzisionsuhrmacherei zugeschrieben. Im Jahr 1604 wurde Bürgi als königlicher Uhrmacher an den Hof Kaiser Rudolfs II in Prag berufen und nahm unter den Herstellern von Uhren und Sphären eine herausragende Position ein. Man weiss, dass er eine Reihe von Experimentaluhren mit ähnlichen Werken hergestellt hat, die alle unsigniert blieben – siehe bei H. Alan Lloyds "Some outstanding clocks over seven hundred years 1250-1950", Kapitel VIII, Seite 61, Tafeln 66 bis 72. Die wenigen existierender Uhren mit Kreuzschlaghemmung sitzen gewöhnlich in eher einfachen Gehäusen, woraus geschlossen werden kann, dass sie für praktische Zwecke - nämlich astronomische Berechnungen - angefertigt wurden. Im Gegensatz dazu ist das Gehäuse dieser Uhr sehr aufwändig gefertigt und wurde sicherlich für einen vornehmen Kunden auf Bestellung angefertigt. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Uhr in Prag eingesetzt werden sollte, ergibt sich aus der wunderbaren Gravur der Sonnenuhr auf der Rückseite der Uhr, die für den Standort Prag (Breitengrad 50) direkt nach Süden ausgerichtet ist.
Literaturnachweis
H. Alan Lloyd, "Some outstanding clocks over seven hundred years 1250-1950", S. 64, Tafeln 65-72.
Klaus Maurice, "Die Deutsche Räderuhr", Band II, S. 81, Tafeln 635 – 637.
Klaus Maurice, "The Clockwork Universe" (Die Welt als Uhr), S. 76, 220-221, 226-227.
A. E. Seemann, "Kostbare Instrumente und Uhren", S. 124-125.

Verkauft

schätzpreis
220.000300.000 €
Realisierter Preis
225.000 €