107. Auktion

19.11.2022

Lot 102

Ferdinand Berthoud

Frühes Pariser Schiffschronometer-Uhrwerk

Verkauft

schätzpreis
60.00080.000 €
Realisierter Preis
137.500 €
Merkmale
Gehäuse
Messing, Stahl.
Zifferblatt
Versilbert, graviert, Schraube für Unruharretierung.
Werk
,
Maße440 x 190,5 mm
LandFrankreich


Die Welt der Uhrmacherkunst ist reich an Variationen, Uhren wurden für die verschiedensten Aufgaben entworfen und gefertigt, aber dennoch: Eine Taschenuhr bleibt letztlich doch eine Taschenuhr, ob sie nun eine Anker- oder Wippenhemmung besitzt, eine Armbanduhr bleibt eine Armbanduhr, auch wenn sie ein Tourbillon oder gar eine Minutenrepetition ihr eigen nennt. Freilich gab es immer wieder Exoten: Jarossays Wanduhren mit dem Schneckengetriebe sind eine solche Besonderheit, doch ihre Urheber sind häufig ebenfalls nur für diese etwas ausgefallenen Konstruktionen bekannt geworden.
Doch es gibt Ausnahmen. In seinem Buch Chronometer Makers of the World schätzt Tony Mercer die Anzahl der insgesamt hergestellten Schiffschronometer auf etwa 100.000. Darunter sind die Werke mit Federchronometerhemmungen von Arnold und Earnshaw, Ankerchronometer und solche mit Wippenchronometerhemmungen (und nun ja, auch Saatys Schneckengetriebe). Die wenigen Schiffschronometer jedoch mit Gewichtsantrieb sind eine extrem rare Spezies, und sie stammen nicht aus der Werkstatt eines verschrobenen Sonderlings, sondern von keinem Geringeren als Ferdinand Berthoud, einem der wichtigsten und berühmtesten Uhrmacher, der grandiose Zeitmesser schuf und mit seinen Lehrbüchern viele Generationen von Nachfolgern beeinflußt hat.
Ferdinand Berthoud wurde am 19. März 1727 im Schweizerischen Plancemont bei Neuchâtel geboren und begann mit 14 Jahren eine Lehre bei seinem Bruder, der im nahegelegenen Couvet als Uhrmacher tätig war. 1745 ging er nach Paris, wo er sich im Laufe der folgenden Jahr einen hervorragenden Ruf als Hersteller von Präzisionsuhren erwarb; die Geschichte des französischen Schiffschronometers, ständig in Konkurrenz mit den berühmten englischen Instrumenten, ist ohne ihn nicht denkbar. Er wurde Hoflieferant des Königs Ludwigs XV., in dessen Auftrag er 1763 nach London geschickt wurde, um die legendären Schiffsuhren John Harrisons zu studieren – ebenso ein singulärer Erfinder, aber anders als Berthoud durchaus nicht geneigt, seine Erkenntnisse mit anderen zu teilen. (Allerdings darf man dabei nicht die nervenaufreibenden Streitikeiten außer acht lassen, die er mit dem "Board of Longitude" auszufechten hatte.) Gleichwohl war diese erste Englandreise Berhouds nicht gänzlich erfolgreich, denn Harrison gestattete zwar die Untersuchung seiner Uhren H1, H2 und H3, hielt aber seine H4, welche die Grundlage für sein letztlich doch bewilligtes Preisgeld der Längengrad-Komission bildete, unter Verschluß.
Erst auf einer zweiten Reise nach London 1766, die ihn u.a. mit Thomas Mudge zusammenführte, konnte er weitere Informationen über dieses Werk sammeln, die auch seine eigenen Entwicklungen beeinflußten. In der Zwischenzeit war er aufgrund seiner Marinechronometer (z.B. seiner frühen Marineuhren No. 3 und No. 6) im Jahr 1764 bereits zum Horloger de la Marine Royale ernannt worden, doch erst 1766 erhielt er von Ludwig XV. und seinem Marineminister (mit dem schönen Titel Duc de Praslin, dessen Familienname tatsächlich Ursprung der heute bekannten Praline ist) den offiziellen Auftrag, den englischen gleichwertige Uhren zu bauen. (Das französische Pendant zum 1714 gegründeten Londoner Board of Longitude gab es in Paris mit dem Bureau des Longitudes denn auch erst gut 80 Jahre später.)
Ferdinand Berthoud starb am 20. Juni 1807 – doch bis dahin verbesserte er die Chronometerhemmungen, schrieb seine grandiosen Lehrbücher zur Uhrmacherei (u.a. Traité des horloges marines, Essai sur l'horlogerie, De la mesure du temps, Traité des montres à longitudes) und fertigte eine große Zahl faszinierender großer und kleiner Uhren, unter denen sich genau 21 gewichtsgetriebene Schiffschronometer befinden, eines davon die hier vorgestellte HM No. 15 –Inventée et exécutée par Ferdinand Berthoud von 1775.
HM No. 15
Mit einer Höhe von 52 und einem Durchmesser von 18 cm ist diese Uhr von beeindruckender Größe. Bedenkt man, dass für die Verwendung auf See noch ein kardanisch aufgehängtes Messinggehäuse nötig war, das diese Werk sicher umschloß, kann man sich die Bedeutung dieses Navigationsinstruments im Zentrum des Schiffes geradezu bildlich vorstellen. Da ein Gehäuse hier nicht vorhanden ist, kommt das Äußere eher nüchtern daher, gibt dafür aber aufregende Einblicke in das Werk mit seiner mächtigen, sanft schwingenden Unruh.
Bleiben wir zunächst beim silbernen Zifferblatt mit der großartigen Signatur, seinem Viertelkreissegment für die römischen Stunden und den zwei kleinen Zifferblättern für die Minuten und Sekunden mit den feinen, gebläuten Stahlzeigern. Hier fällt sofort die ungewohnte Einteilung in Schritte von zwei Sekunden ins Auge: Merkmal der verwendeten Hemmung mit der langsamen Unruhschwingung, die nur alle zwei Sekunden voranschreitet. Stunden und Sekunden werden im Übrigen unabhängig voneinander gestellt. Weiter finden wir eine Vorrichtung zum Anhalten der Unruh, eine kleine Abdeckplatte und einen Aufzugsvierkant; ein vergleichsweise zierliches Element angesichts dessen, was sich beim Aufziehen zwischen den stählernen Pfeilern in Bewegung setzt. Einem Lastenaufzug gleich wandert die große Messingplatte, von drei Winkeln geleitet nach oben, auf der die zwei unerwartet aufwändig dekorierten Messinggewichte stehen. Zwei Umlenkrollen führen das Seil zur großen, waagrecht liegenden gerillten Aufzugswalze, die Gangdauer beträgt 24 Stunden.
Es gibt einen netten Film im Internet, in dem Karl-Friedrich Scheufele, Präsident der vor einigen Jahren zu neuem Leben erweckten Marke Ferdinand Berthoud die restaurierte HM No. 14, also den direkten Vorgänger unserer Uhr, für das Chopard-Museum L.U.CEUM in Fleurier entgegen nimmt. Nett auch deshalb, weil ein Mitarbeiter darin fragt, ob es denn hier auch Kette und Schnecke gäbe, was natürlich bei einem Gewichtsantrieb unsinnig ist und was sicher auch dem Frager bekannt gewesen sein dürfte; verbuchen wir das einmal unter dem pädagogischen Aspekt. Interessant an dem schön gemachten Film ist aber dennoch der Vergleich, den er zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Nummern 14 und 15 zuläßt: Dort das vergoldete Blatt mit Emailzifferblättern, bei unserer Uhr ins Silber gravierte Skalen. Das Abdeckplättchen fehlt der No. 14 gänzlich und es zeigt sich beispielhaft, dass kaum eines der 21 Chronometer dem anderen gleicht. Sind es hier die unterschiedlichen Materialien der Zifferblätter, sehen wir in Paris die No. 24 von 1782 mit drei kleinen Zifferblättern und die erwähnte No. 6 hat alle Anzeigen aus der Mitte; gibt es neben rohen Bleigewichten solche in verziertem Messing, wird anderswo der Gewichtsteller einmal in Rollen geführt und einmal mit Messingwinkeln – auf einer Zeichnung von Berthoud selbst wird gar eine Zahnstange verwendet. Ständige Veränderung und fortwährendes Weiterentwickeln kennzeichnen Berthouds Werk. Geschildert wird im Übrigen auch die Herstellung eines Gehäuses für den Marinechronometer – wer ein solches benötigt, muß es sich in der Regel selbst anfertigen, denn die Berthoud'schen Chronometer dieser Art gibt es praktisch nur ohne Gehäuse, was an die französischen Präzisionspendeluhren für Observatorien erinnert, die, u.a. auch von Berthoud gefertigt, häufig großzügig auf mitgelieferte Holzgehäuse verzichtet hatten. Man lieferte Technik und Präzision.
Das Werk unserer No. 15 besticht natürlich auf den ersten Blick mit der riesigen Unruh mit ihrem Durchmesser von 13 cm und der vertikal unter dem Werk befindlichen Temperaturkompensation in Form eines Messing-/Stahlrosts mit 16 Stäben, der sich über die gesamte Breite der Platine erstreckt und direkt auf die Unruhfeder einwirkt. Die dreischenkelige Unruh ist ein massiver, vergoldeter Messingreif mit drei Gewichten, eine große, gravierte Skala dient der Feinregulierung. Eine Wippenchronometerhemmung gibt das Gangrad alle zwei Sekunden frei. Das eigentlich Werk umfaßt drei Ebenen mit massiven Messingplatinen, darüber das Zifferblatt und darunter die lange Wegstrecke für den Gewichtsaufzug. Starke, verstiftete Werkspfeiler verleihen der hohen Konstruktion die nötige Stabilität. Alles an diesem Werk ist von überragender Qualität und in hervorragendem Zustand.
Die meisten Uhren dieser Art von Ferdiand Berthoud sind heute in Museen zu finden. Im Schauraum des Musée international d’Horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds findet sich die No. 12 von 1774, das Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris besitzt sechs Exemplare, einige sind verstreut in Sammlungen anderer Museen oder Privatleute.
Dieses Stück in unserer Auktion präsentieren zu können, ist ein großer Glücksfall!