103. Auktion

7.11.2020

Lot 88

Sigmund Riefler, München, DRP No. 50739 / 1008740, Werk Nr. 56, Höhe 1370 mm, circa 1900
Bedeutende, astronomische Präzisionssekundenpendeltankuhr - Typ D - mit Rieflers Federkrafthemmung und Winbauers elektrischem Aufzug, geliefert an das Observatorium der "Case School of Applied Science" in Cleveland - weitestgehend im Auslieferungszustand mit dem originalen Glastank und -aufsatz, Barometer, Thermometer und Hygrometer, Zulagegewichten und Vaselinedöschen zur Glasabdichtung
Geh.: Innendruck-konstanter Glaszylinder mit Glasaufsatz, gußeiserne Wandhalterung. Ziffbl.: versilbert. Werk: Rechteckform-Messingwerk, Sekundenkontakt, Echappement mit Federkrafthemmung No. 73, Invarstahlpendel "Typ J¹", Nr. 28, DRP Nr. 100870.
"Die genaueste Uhr der Welt"
Unter den Präzisionspendeluhren der Firma Riefler gibt es viele, die aufgrund ihrer Geschichte, ihres Einsatzortes oder ihrer Besitzer besondere Beachtung gefunden haben; sei es, dass sie wichtige Auszeichnungen erhielten, an bedeutenden Instituten zum Einsatz kamen oder hochrangige Besitzer hatten, wie den Papst, der seine Sternwarte damit ausstattete.
Besondere Berühmtheit erhielt allerdings schon relativ kurze Zeit nach ihrer Aufstellung die Uhr No. 56, die Sigmund Riefler am 23. April 1901 nach Cleveland in Ohio verschicken ließ. Interessanterweise lieferte Riefler ja zu Beginn seiner Tätigkeit fast genauso viele Uhren in die USA wie nach Deutschland, denn Sigmund Riefler - nicht nur ein genialer Ingenieur, sondern ebenso ein rühriger Verkäufer - hatte frühzeitig eine Marktlücke entdeckt, die unter anderem durch die Einführung der Standardzeiten entstanden war. Besonders die Ausstellung auf der World's Columbian Exposition, der Weltausstellung in Chicago 1893, machte Rieflers Präzisionsuhren in den USA bekannt und führte dazu, dass einige der ganz frühen Uhren an amerikanische Institute verkauft wurden: No. 6 und 36 nach Washington, No. 7 nach Philadelphia, No. 35 nach Providence, No. 65 an die Harvard University und No. 88 nach Albany, NY. Die No. 76 lieferte von Washington aus von 1904 bis 1929 die Standardzeit der USA.
Nachdem unsere No. 56 etwa ein Jahr unter regulären Bedingungen am "Warner and Swasey Observatory" in Cleveland im Einsatz war, schilderte der dortige Professor Charles S. Howe 1902 in einem Beitrag für das "Astronomical Journal" seine Erfahrungen mit dieser Uhr. Zunächst beschreibt er die optimalen Bedingungen bezüglich Luftdruck und Temperatur, die für einen präzisen Gang nötig sind, und kommt zu dem Schluß, das bislang nur die Tankuhren der Firma Riefler diese Anforderungen erfüllen. Die Auswertung der Gangtabellen und der Vergleich mit Uhren anderer Institute führt für ihn zu dem Ergebnis, sie seien besser als alle anderen veröffentlichten Werte ("better than any other published observations").
In einem Aufsatz zur "geschichtlichen Entwicklung der Technik im südlichen Bayern" greift Paul v. Lossow im folgenden Jahr das Thema auf und schreibt: "Von den Gangergebnissen dieser Uhren, welche von verschiedenen Sternwarten vorliegen, sei die zuletzt am 11. August 1902 von Prof. Howe im Astronomical Journal Nr. 524 veröffentlichte Gangtabelle der an der Sternwarte zu Cleveland, 0., aufgestellten Uhr Riefler No. 56 mit luftdichtem Glasverschluss, Nickelstahlpendel und elektrischem Aufzug hier erwähnt. Hiernach betrug die mittlere tägliche Abweichung dieser Uhr 0,015 sk, und die grösste während der ganzen mehrere Monate umfassenden Gangzeit vorgekommene Abweichung erreichte einen Betrag von 0,022 sk. Es sind dies die besten von irgend einer Uhr bis jetzt bekannt gewordenen Ergebnisse, wobei in betracht kommt, dass es sich hier um unmittelbar beobachtete Gänge handelt, an welchen keinerlei Umrechnungen inbezug auf Schwingungsbogen, Temperatur usw. vorgenommen worden sind."
Auch andere Autoren widmeten sich dieser Uhr; Willis I. Milham beschreibt sie in seinem Buch "Time & Timekeepers", auch eine Doktorarbeit darüber findet sich an der Case Western Reserve University, die heute die frühere Case School of Applied Science umfaßt. Im Riefler-Verkaufsbuch wurde denn auch mit berechtigtem Stolz eingetragen: "Als beste Uhr der Welt bezeichnet! Tagl. Var. ± 0,008s".
Seit dem Ende ihres Betriebs im Observatorium war die Uhr in privatem Besitz und kam nie in den Verkauf. Sie hat niemals größere Schäden erlitten und befindet sich in vieler Hinsicht in ähnlichem Zustand wie bei der Auslieferung im Jahr 1901: Der Glastank und der Aufsatz sind original und unversehrt, es liegen die ursprünglichen Meßinstrumente bei (das bei der Lieferung beschädigte Barometer wurde schon 1901 vor der endgültigen Inbetriebnahme ersetzt), wir finden Zulagegewichte im originalen Riefler-Schächtelchen und sogar die kleine Dose Vaseline, die der Abdichtung des Glasrandes diente, scheint Teil der damaligen Fracht zu gewesen zu sein, stammt sie doch aus der Münchner Stern-Apotheke. Einzig die Luftpumpe für die Erzeugung des Unterdrucks ist ein amerikanisches Modell.
Selbst abgesehen von Zustand und Geschichte ist diese Riefler-Uhr eine Rarität ersten Ranges für den Sammler: Schließlich gab es ohnehin nur 49 Uhren vom Typ D im Glaszylinder (von denen einige bekanntermaßen beschädigt oder zerstört sind), und von den frühen Uhren mit dem Winbauer-Aufzug wurden insgesamt sogar nur sieben Stück gebaut, bevor Riefler einen Aufzug nach seinem eigenen Patent einsetzte.
Dem Anspruch, die genauesten Uhren der Welt zu bauen, blieb die Firma Riefler bis zum Ende treu. Mit den drei Uhren vom Typ E und ihrer jährlichen Gangabweichung von weniger als einer Sekunde pro Jahr erreichte sie Anfang der 60er Jahre wohl die Grenze dessen, was mit mechanischen Uhren möglich war. Da aber hatten die Atomuhren schon die Zeit-Herrschaft übernommen.

Verkauft

schätzpreis
80.000150.000 €
Realisierter Preis
184.000 €